Von der Baustelle zur Produktionslinie: Wie sich die Bauindustrie wandelt
Die Bauindustrie steht vor zahlreichen Herausforderungen: Fachkräftemangel, steigende Nachhaltigkeitsanforderungen, die Vielzahl an Normen und komplizierte Genehmigungsverfahren sind nur einige davon. Prof. Dr.-Ing. habil. Christoph van Treeck, Inhaber des Lehrstuhls für Energieeffizientes Bauen an der RWTH Aachen, forscht mit seinem Team intensiv an diesen Themen.
Im Interview beleuchten wir die aktuellen Probleme und diskutieren mögliche Lösungen. Im Fokus steht die Frage, wie die Baubranche neu gedacht und gestaltet werden kann, um diese Herausforderungen effektiv zu meistern.
Herr Professor van Treeck, welche Herausforderungen sehen Sie aktuell in der Baubranche?
Es gibt eine Vielzahl von Themen, mit denen sich die Branche derzeit beschäftigen muss.
So besteht ein extrem hoher Bedarf an bezahlbarem Wohnraum, aktuellen Schätzungen nach sind das gut 800.000 Einheiten pro Jahr. Dem stehen wiederum steigende Baukosten durch höhere Finanzierungskosten, Energie- und Materialpreise sowie hohe Arbeitskosten gegenüber. Zusätzlich wird die Effizienz der Projekte durch längere Bauzeiten beeinträchtigt, und langwierige Genehmigungsverfahren tragen zur Komplexität der Bauvorhaben bei. Gleichzeitig beobachten wir eine seit 30 Jahren gleichbleibend schlechte Arbeitsproduktivität auf der Baustelle.
Ein weiterer signifikanter Punkt ist der Mangel an qualifiziertem Personal, der sich in Zukunft potenziell weiter zuspitzen wird. Dies verdeutlicht, warum ein Wandel in der Baubranche notwendig ist.
Leider ist das aber nicht so einfach. Das Bauhauptgewerbe ist nicht dafür bekannt, gerne Investitionen in Forschung und Entwicklung zu tätigen. Zudem dürfte auch niemand ein ernsthaftes Interesse daran haben, die etablierten Vergabeprozesse zu verändern, denn mit Nachträgen wird Geld verdient. Ich glaube daher nicht daran, dass die anstehenden Veränderungen aus dem Bauhauptgewerbe heraus erfolgen werden. Hierfür benötigt es einen komplett neuen Industriezweig.
Zusätzlich gibt es externe Einflussfaktoren wie die Klimakrise, die auch im Bauwesen omnipräsent ist. Es besteht ein erheblicher Bedarf an nachhaltigen Vorgehensweisen und Technologien, um den ökologischen Fußabdruck der Branche zu reduzieren und den Anforderungen an umweltfreundliches Bauen noch besser gerecht zu werden.
Angesichts dieser vielfältigen Herausforderungen müssen neue Lösungswege identifiziert und alte Vorgehensweisen überdacht werden. Ein vielversprechender Ansatz hierfür ist die Industrialisierung der Baubranche.
Industrialisierung der Baubranche? Was meinen Sie damit konkret?
Wenn ich von der Industrialisierung der Baubranche spreche, meine ich, dass wir das Bauen komplett neu denken müssen. Die erforderlichen Stückzahlen an Wohneinheiten können wir nur durch eine massive Industrialisierung erreichen. Ein gutes Beispiel dafür ist die Automobilbranche: Wir sollten großindustrielle Fertigbauprozesse etablieren. Das bedeutet jedoch nicht eine Rückkehr zum alten Plattenbau. Bei der modularen Bauweise handelt es sich übrigens auch nicht um den klassischen Modulbau.
Stattdessen können wir im sogenannten modularen Bauen durchaus eine individuelle Formensprache entwickeln und uns an konkrete Bedürfnisse anpassen, ohne jedes Mal das Rad neu zu erfinden. Modulare Bausysteme ermöglichen uns eine flexible Anpassung an unterschiedliche Anforderungen und auch ästhetische Vorstellungen, ohne die Effizienz der Produktion zu verlieren, da der Bauproduktionsprozess als solches stets gleichbleibt.
Wie kann so etwas aussehen?
Ein Kernpunkt der Industrialisierung wäre die Trennung der Produktion von der Baustelle, freilich erst nach der Erschließung und Gründung. Wesentliche Teile des Bauprozesses sollten in eine Fabrikumgebung verlagert werden. In der Automobilindustrie werden Fahrzeuge unter kontrollierten Bedingungen in Fabriken hergestellt und erst dann auf den Markt gebracht. Ähnlich sollten auch Bauelemente gefertigt und erst auf der Baustelle montiert werden. Dies reduziert die Bauzeiten erheblich und erhöht gleichzeitig die Bauqualität.
Damit meine ich übrigens nicht nur Betonfertigteile. Gerade in den technischen Ausbaugewerken steckt viel Potenzial. Im Bauwesen ist die technische Gebäudeausrüstung (TGA) oft der komplexeste und kritischste Teil des Bauprozesses. Durch die Industrialisierung kann auch die TGA vorgefertigt, bauteilintegriert und standardisiert werden, was den gesamten Bauprozess erheblich vereinfacht und beschleunigt. Dabei geht es nicht nur um die Mechanisierung, sondern auch um die intelligente Verknüpfung von Prozessen, Gewerken und Schnittstellen.
Industrialisierung bedeutet auch, dass wir den gesamten Lebenszyklus eines Gebäudes betrachten müssen – von der Planung über die Bauphase bis hin zum Betrieb und zur Wartung. Dafür müssen alle Beteiligten eng zusammenarbeiten. So können wir sicherstellen, dass das Endprodukt den Anforderungen entspricht und effizient betrieben werden kann.
Ist eine solche Industrialisierung denn einfach so umsetzbar? Was braucht es aus Ihrer Sicht dafür?
Die Industrialisierung des Bauens stellt nicht nur eine technische, sondern auch eine kulturelle Herausforderung dar, das hatte ich ja eingangs schon erwähnt. Sie erfordert ein Umdenken in der gesamten Branche und die Bereitschaft, traditionelle Methoden und Prozesse zu hinterfragen und zu verändern. Nur so können wir die Effizienz und Qualität im Bauwesen nachhaltig verbessern und den aktuellen Herausforderungen begegnen. Und das wird leider eben nicht durch das Baugewerbe per se erfolgen.
Ein erster Schritt ist, von der herkömmlichen Vergabe von Bauleistungen abzurücken und stattdessen Baueinheiten als Vergabeobjekte zu betrachten. Dazu ist die Einführung standardisierter Produktionsprozesse und entsprechender Typzulassungen notwendig. In diesem Zusammenhang sollten vorgefertigte Module und Bauelemente in Fabriken hergestellt und auf den Baustellen zusammengesetzt werden.
Digitale Technologien wie Building Information Modeling (BIM) helfen sicher dabei, die ganzheitliche Planung und Koordination dieser Prozesse zu verbessern. BIM ermöglicht eine durchgängige digitale Planung und Vernetzung aller Beteiligten, von der ersten Entwurfsphase bis zur Fertigstellung und darüber hinaus. So können alle Beteiligten in Echtzeit auf aktuelle Daten zugreifen, was einen integrativen Bauprozess ermöglicht und sicherstellt, dass alle stets auf dem gleichen Wissensstand sind. BIM ist jedoch an dieser Stelle nicht der Gamechanger, sondern die Industrialisierung.
Wo möglich, sollten wir Bauprozesse außerdem digitalisieren und automatisieren, um die Effizienz und Qualität zu steigern. Roboter können beispielsweise repetitive und präzise Arbeiten schneller und fehlerfrei ausführen. Dies bedeutet jedoch auch ein Umdenken für Fachkräfte, die sich an die neuen Technologien und Arbeitsmethoden anpassen müssen.
Wie meinen Sie das?
Vor dem Hintergrund des Fachkräftemangels und des enormen Bedarfs an Wohnraum glaube ich nicht daran, dass Fachkräfte arbeitslos werden. Der Fachkräftemangel hält uns alle in Atem. Die Industrialisierung der Baubranche bietet hier eine echte Perspektive, unterstreicht aber auch die Ambition: Die Zukunftsfähigkeit des Gebäudebaus hängt davon ab, wie gut es gelingt, Menschen auf die Reise der Industrialisierung mitzunehmen. Technologische Innovation erfordert zielgerichtete Qualifizierungsprogramme. Wissensvermittlung und -transfer werden wichtiger denn je.
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter müssen geschult werden, um mit den neuen Technologien und Prozessen umzugehen. Dies bedeutet, dass Schulungen und Weiterbildungsprogramme entscheidend sind, um die Belegschaft auf die Anforderungen der industrialisierten Bauweise vorzubereiten. Indem wir das Fachwissen und die Fähigkeiten der Arbeitskräfte weiterentwickeln, können wir sicherstellen, dass die Branche den Wandel erfolgreich meistert und zukunftsfähig bleibt.
Was Sie da skizzieren, ähnelt in der Tat sehr den Fertigungsprozessen in der Automobilbranche. Wie könnte denn eine solche Serienproduktion konkret in der Baubranche aussehen?
Wir alle kennen die Bilder von Autos, die in Produktionsstraßen zusammengesetzt werden. Serienproduktion für standardisierte Bauelemente kann ähnlich aussehen, indem die Fertigung in hochspezialisierten Fabriken stattfindet. Diese Elemente können anschließend zu individualisierbaren Modulen für unterschiedliche Bauvorhaben zusammengesetzt werden.
Wichtig ist dabei auch ein Umdenken in den Zulieferungsprozessen: eine Just-in-time-Lieferung der Bauteile direkt vom Hersteller zur Baustelle, um Lagerkosten zu minimieren und den Bauprozess zu beschleunigen. Auf der Baustelle selbst können schließlich Robotik und automatisierte Maschinen eingesetzt werden, um den Bau weiter zu optimieren und die Qualität zu sichern. Diese Technologien ermöglichen eine präzise und effiziente Montage der Module.
Welche Vorteile sehen Sie in einer solchen Industrialisierung für die Baubranche?
Die Vorteile einer Industrialisierung der Baubranche sind vielfältig und unbestritten. Erstens schaffen wir hohe Stückzahlen allein durch die Industrialisierung. Zweitens kommen wir aus Kundensicht dem Modell eines Festpreises und damit der Kostensicherheit deutlich näher. Standardisierte Prozesse und vorgefertigte Module ermöglichen präzise Kalkulationen und die fristgerechte Fertigstellung von Bauprojekten innerhalb des Budgets. Zudem können Bauzeiten durch die effiziente Produktion und Montage der Module deutlich verkürzt werden.
Die Bauqualität verbessert sich ebenfalls durch die Industrialisierung. Vorgefertigte Module werden in kontrollierten Fabrikumgebungen unter optimalen Bedingungen und standardisierten Prozessen hergestellt. Dies vereinfacht auch die Arbeit auf der Baustelle. Unterschiedliche Baugegebenheiten führen oft zu Herausforderungen, aber durch standardisierte Fertigung wird die Fehlerquote minimiert und eine konstant hohe Qualität gewährleistet. Kontrollen und Zertifizierungen in den Produktionsstätten unterstützen dies zusätzlich.
Das klingt tatsächlich so, als würde es den gesamten Bausektor voranbringen. Sehen Sie auch Vorteile, die über die Branche hinausgehen?
Auf jeden Fall! Die standardisierte Produktion reduziert nicht nur Bauabfälle durch präzise Planung, sondern sorgt auch für einen effizienten Materialeinsatz. Durch exakte Vorplanung und den Einsatz digitaler Informationstechnologien kann der Materialbedarf besser berechnet und Überschüsse vermieden werden.
Selbiges gilt übrigens für das Thema serielle Sanierung. Auch hier werden sich langfristig Baukasten-artige Systeme durchsetzen, so wie das im Bad-Bereich schon zu beobachten ist.
Insgesamt bietet die Industrialisierung ein Potenzial für eine nachhaltigere, effizientere und qualitativ hochwertigere Bauweise, die sowohl ökonomische als auch ökologische Vorteile mit sich bringt.
Gibt es bereits Beispiele, die zeigen, dass diese Ansätze in der Praxis funktionieren?
Ja, es gibt bereits erfolgreiche Pilotprojekte. Besonders in Skandinavien und den USA wurden modulare Bauweisen bei Wohn- und Gewerbebauten erfolgreich implementiert. Diese Projekte haben gezeigt, dass modulare Bauweisen nicht nur theoretisch funktionieren, sondern auch in der Praxis erhebliche Zeit- und Kostenersparnisse ermöglichen. In diesen Regionen wurden positive Rückmeldungen hinsichtlich der Zeit- und Kostenersparnis sowie der Qualität der Gebäude verzeichnet.
Jedoch sind Fabrikationsansätze auch kritisch zu hinterfragen. Oftmals sind Ansätze auf den Holzbau oder „einfache“ Hybridbauformen beschränkt oder fokussieren sich auf Betonfertigteile. Auch gibt es einige Beispiele für gescheiterte Fabrikationsanlagen.
Aber eines meiner Lieblingsbeispiele ist Singapur. Die Automatisierung und Industrialisierung der Baubranche werden dort von zahlreichen Richtlinien vorangetrieben. In Singapur werden bereits 65 Prozent aller überirdischen Bauten modular hergestellt. Die Implementierung dieser Technologien zeigt, dass eine Industrialisierung der Baubranche nicht nur machbar ist, sondern auch Vorteile bringt. Die gewonnenen Erkenntnisse aus diesen Projekten können als Blaupause für ähnliche Vorhaben in anderen Ländern dienen und Orientierung für die Entwicklung hin zu einer effektiveren und produktiveren Bauchbranche stiften.
Zusammenfassend: Warum ist die Industrialisierung der Baubranche erforderlich?
Wir müssen es uns immer wieder vor Augen halten: hohe Stückzahlen im Geschosswohnungsbau erfordern eine massive Industrialisierung des Bausektors. Diese Innovation sehe ich jedoch nicht aus dem Bauhauptgewerbe kommen, sondern eher in Form eines neuen Industriesektors zwischen Informations- und Kommunikationstechnologie und dem Bereich der Produktionstechnik. Die konsequente Umsetzung der Industrialisierung wird die Baubranche revolutionieren. Sie hat das Potenzial, die Effizienz, Produktivität, Nachhaltigkeit und Qualität signifikant zu steigern, neue Geschäftsmodelle zu ermöglichen und die Wettbewerbsfähigkeit der Branche global zu stärken. Die Zukunft der Baubranche ist digital und industrialisiert, und diese Transformation wird den Weg für eine neue Ära des Bauens ebnen.
Vielen Dank!
Prof. Dr.-Ing. habil. Christoph van Treeck ist Inhaber des Lehrstuhls für Energieeffizientes Bauen an der RWTH Aachen und beschäftigt sich mit dem Bauen von morgen.